Versorgung bei Erektionsstörungen verbessern – aktuelle Erkenntnisse zu den möglichen Effekten einer Entlassung von Sildenafil aus der Rezeptpflicht nutzen
Die erektile Dysfunktion (ED) betrifft etwa 50 % der Männer über 40 Jahre.1 Obwohl so viele Männer von erektiler Dysfunktion betroffen sind, erhalten längst nicht alle von ihnen eine Behandlung. Trotz der großen Bekanntheit des Themas in der Öffentlichkeit, sind Erektionsstörungen häufig immer noch mit Stigmatisierung und Scham verbunden. Wo stehen wir heute, welche neuen Erkenntnisse gibt es und was muss getan werden, um Männern eine optimale Versorgung zu ermöglichen? Dazu haben wir mit Prof. Dr. med. Frank Sommer gesprochen. Er ist Facharzt für Urologie und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit (DGMG).
Vor mehr als 25 Jahren kam der erste PDE-5-Hemmer zur Behandlung der erektilen Dysfunktion auf den Markt. Was hat sich seitdem getan?
Das war eine weltweite Revolution, als Sildenafil als erster PDE-5-Hemmer auf den Markt kam. Damals gab es noch keine orale Therapie. Es standen nur lokal anzuwendende Spritzen, Vakuumpumpen oder Schwellkörper-Implantate zur Behandlung der erektiler Dysfunktion zu Verfügung. Auf eine orale Therapie haben viele Männer gewartet. Bis dahin waren die therapeutischen Angebote für Männer unattraktiv und nicht sehr bekannt. Deshalb sind Männer bei Potenzproblemen lange nicht zur Ärztin oder zum Arzt gegangen, erst nach durchschnittlich 15 Jahren, wenn der Leidensdruck schon sehr hoch war. Das hat sich deutlich verbessert: Männer wenden sich mit ihrer erektilen Dysfunktion viel früher an Ihre Ärztin oder Ihren Arzt, im Durchschnitt nach 6 bis 36 Monaten. Außerdem gab es dank der Einführung von Sildenafil vermehrt Forschung zur Männergesundheit. So hat man festgestellt, dass Erektionsstörungen Vorboten für kardiovaskuläre Erkrankungen, wie Schlaganfälle oder Herzinfarkte sowie Stoffwechselstörungen wie Diabetes sein können. Plötzlich spielte der Penis eine große gesundheitliche Rolle – als Spiegelbild der männlichen Gesamtgesundheit. Auch gesellschaftlich hat sich vieles verändert: Die männliche Sexualität und mögliche Probleme waren in den 1990ern plötzlich in der Öffentlichkeit präsent. Das Thema erlebte einen Boom in den Medien: Talkshows befassten sich mit dem Thema und Betroffene sprachen in Nachmittags-Shows über ihre Potenzprobleme. Viele haben über ihre Sexualität gesprochen und gingen offen damit um. Das alles führte auch zu einer Entstigmatisierung von Erektionsstörungen.
Wie steht es um die Versorgung von Männern mit erektiler Dysfunktion in Deutschland, wo gibt es aktuell Handlungsbedarf?
Durch die medizinischen und gesellschaftlichen Veränderungen hat die Versorgung von Männern mit erektiler Dysfunktion signifikant zugenommen. Aber noch immer erhält nur ein Bruchteil der Männer in Deutschland, die an Erektionsstörungen leiden, eine Therapie. Die Hemmschwelle bleibt: Nicht jeder kann ohne Scham mit Ärztin oder Arzt über Probleme beim Sex sprechen. Es gibt also noch einiges zu tun in Bezug auf Therapiezugang und Entstigmatisierung bei Erektionsproblemen.
Warum sind immer noch so viele Männer nicht in Behandlung?
Dazu haben wir bei der Deutschen Gesellschaft für Mann und Gesundheit (DGMG) eine Untersuchung gemacht: Ein Grund liegt bei uns Ärztinnen und Ärzten – auch wenn sich das langsam verbessert. Häufig werden die Probleme einfach abgetan. Das passiert ganz jungen Männern – da heißt es dann „das ist psychogen, machen Sie mal Urlaub“. Und auch den Älteren: Ich hatte mal einen 57-jährigen Patienten – und den würde ich persönlich nicht als älteren Mann bezeichnen – der berichtete von der Reaktion seines Hausarztes „Sie werden in 3 Jahren 60, wie viel Sexualität wollen Sie denn noch haben?“ Er hat sich geschämt und sich schlecht gefühlt, dass er den Wunsch geäußert hat, partnerschaftliche Interaktionen zu haben. Den älteren Männern wird oft die Sexualität abgesprochen. Das passiert auch bei Urolog:innen, die eigentlich die Fachleute für das äußere Genital sind. In der Untersuchung haben über die Hälfte der Befragten das Thema gewechselt und den Patienten nicht darüber sprechen lassen. Ein Patient, der einmal so unterbrochen wurde, wird das Thema nicht so schnell wieder ansprechen. Außerdem gibt es Barrieren in der Bevölkerung selbst: Obwohl es viele Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen gab und wir heute viel offener über Sexualität reden, gibt es immer noch viele Patienten, die sich scheuen, über Sexualität und Erektionsstörungen zu sprechen.
In einigen europäischen Ländern wie Polen, Norwegen, UK oder Irland sind PDE-5-Hemmer wie Sildenafil ohne Rezept in der Apotheke erhältlich? Wie stehen Sie dazu?
Das ist eine gute Lösung für diese Länder und ihre Gesundheitssysteme. Es sind viele Männer betroffen und so haben sie eine Therapie-Chance. Die Apotheker:innen bieten den Patienten eine qualifizierte Beratung und prüfen, ob sie für einen PDE-5-Hemmer geeignet sind. Je nach Situation gibt es dann die Empfehlung zu einer Ärztin oder einem Arzt zu gehen, was zur Abklärung einer eventuellen Grunderkrankung wichtig ist. Die Daten aus UK zeigen, dass dieses Vorgehen auch im Sinne der Patientensicherheit funktioniert.
Wäre eine Herausnahme dieser Medikamente aus der Rezeptpflicht auch ein Weg in Deutschland?
Die Herausnahme von Sildenafil aus der Rezeptpflicht ist in jedem Fall in Deutschland denkbar. Man muss schauen, wie man das umsetzt. In meinen Augen sollte jeder Mann mit Erektionsstörungen einmal zu einer Ärztin oder einem Arzt gehen, um zu screenen, ob Erkrankungen zugrunde liegen. Danach spricht nichts dagegen, dass der Mann seine Medikamente ohne Folgerezepte direkt in der Apotheke bezieht. Die Apothekerin oder der Apotheker fragt dabei ab, ob sich seit der letzten Abgabe in Bezug auf weitere Medikamente oder Krankheiten etwas geändert hat.
Welche Chancen sehen Sie in einer Entlassung von Sildenafil aus der Rezeptpflicht für eine bessere Versorgung?
Ohne Rezeptpflicht ist es für die Patienten einfacher, Sildenafil zu bekommen, was gut ist. So haben sie keine Wartezeiten auf ihre Medikamente, die „on-demand“ vor dem Sex eingenommen werden. Aber die Männer sollten einmal zum Screening zur Ärztin bzw. zum Arzt, um die Ursachen der erektilen Dysfunktion zu erkennen. Außerdem bietet die Entlassung aus der Rezeptpflicht eine Chance, den Schwarzmarkt zu reduzieren. Teilweise enthalten illegal bezogene Präparate Schwermetalle. Manchmal ist die Wirkstoffmenge viel größer, was dann nicht mehr unbedenklich ist und manchmal ist gar kein Wirkstoff enthalten. Ein gesicherter und niedrigschwelliger Zugang über die Apotheken könnte die illegale Beschaffung reduzieren – zum Wohl der Männergesundheit.
Ein aktuelles Gutachten2 vom Juni dieses Jahres kommt zu dem Ergebnis, dass eine Entlassung von Sildenafil aus der Verschreibungspflicht positive Effekte auf die Gesundheit von Männern hätte. Durch eine Beratung in Apotheken über Erkrankungen, die im Zusammenhang mit einer erektilen Dysfunktion stehen können, ergibt sich die Chance, Patienten in eine strukturierte ärztliche Behandlung zu überführen. Außerdem ließe sich so die Beschaffung von Sildenafil aus dem Schwarzmarkt eindämmen.
In UK konnten laut diesem Gutachten mehr Männer mit erektiler Dysfunktion in die ärztliche Versorgung überführt werden, nachdem Sildenafil rezeptfrei verfügbar war. Wie beurteilen Sie das Ergebnis? Könnte das auch in Deutschland gelingen?
Für UK sind diese Zahlen deutlich, allerdings ist das Gesundheitssystem nicht mit dem in Deutschland zu vergleichen. Aber vielleicht können wir auf dem Weg über die Apotheke auch in Deutschland mehr Männer in eine ärztliche Versorgung bringen.
Wie können Ärzt:innen und Apotheker:innen zusammenarbeiten – zum Wohl ihrer Patienten bzw. Kunden?
Männer, die Sildenafil bekommen haben, sollten in einem adäquaten Zeitraum eine Ärztin oder einen Arzt sehen. Danach muss der Mann nicht für jedes Rezept in die Arztpraxis gehen, sondern könnte das Medikament direkt in der Apotheke abholen. Sicher wird sich für die Umsetzung eine Lösung finden lassen. Die Apothekerin oder der Apotheker evaluiert, ob sich gesundheitlich etwas geändert hat oder ob Medikamente dazu gekommen sind, bei denen eventuell eine Kontraindikation besteht. Ist alles wie vorher, gibt er das Medikament ab, wenn nicht, empfiehlt er die Rücksprache mit der Praxis.
Was gibt es in Zukunft noch zu tun, um die Männergesundheit zu verbessern?
Es ist eine gute Möglichkeit, die Männer im Gespräch in der Apotheke abzuholen und für andere gesundheitliche Aspekte zu sensibilisieren. Dabei könnte ein Bezug von Medikamenten wie Sildenafil ohne Rezept in der Apotheke helfen. Der Penis und die Erektionsstörung sind dann ein Türöffner für andere Gesundheitsthemen. So könnte man mehr Aufmerksamkeit schaffen für die Männergesundheit insgesamt, damit sich Männer z. B. mehr für ihr Herz-Kreislauf-System und ihren Stoffwechsel interessieren. Männer in Deutschland sind überwiegend immer noch Gesundheitsmuffel. Es ist wichtig, ein entsprechendes Bewusstsein zu schaffen, damit Männer den Wunsch entwickeln, sich insgesamt besser um ihre Gesundheit zu kümmern.
1Feldman H, et al. Impotence and its medical and phycological correlates results of the Massachusetts male ageing study. The Journal of Urology, 1994;151: 54-61.
2 Arnold M, Rottenkolber D. Public-Health-Impact eines möglichen OTC-Switches von Sildenafil 50 mg. https://inav-berlin.de/wp-content/uploads/2023/06/inav_Gutachten_Sildenafil-OTC-Switch.pdf (Zugriff September 2023)